Die Erde erscheint riesig, im unendlichen Meer des Universums ist sie ein winziges Schiffchen, auf dem wir gemeinsam leben. Eine ’problemorientierte Philosophie’ ist mit dem „Bau eines Schiffes auf offenem Meer“ vergleichbar. Heute sind durchaus Hunderte Millionen Menschen an der "wahrhaften Auflösung des Widerstreites" interessiert, engagiert und konstruktiv an unserem Schiff tätig - aber: Milliarden entfernen (teils bewusst, teils unbewusst) unten im Rumpf Planken, um sie an Deck zu verhökern.

5. Versuch einer Skizze zur Notwendigkeit einer Verwirklichung der Philosophie.

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Am Anfang seines Buches stellte Marcuse die Frage:


„Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebensosehr dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen ? “ (121)

Die Suche nach den Ursachen dieser möglichen Katastrophe wird durch die akuten Anstrengungen, diese Katastrophe zu verhindern, überschattet und verdrängt. Die Ursachen treten gegenüber der aktuellen Bedrohung von aussen zurück, und werden von der Öffentlichkeit nicht mehr gesucht oder angegriffen. Sind wir heute in einer ähnlichen Situation - mit dem Unterschied, dass die Bedrohung von aussen auch die durch eine absehbar gewordene globale ökologische Katastrophe ist ?

Heute hat die Zunahme des Anteils an Kohlendioxid in der Luft pro Jahr die gleiche Grösse wie die mit der Evolution des Lebens eng verzahnte Abnahme des atmosphärischen Kohlendioxidgehaltes in 180.000 Jahren (vor der Industrialisierung). Eine um den Faktor 180.000 beschleunigte ’Evolution in umgekehrter Richtung’ bevorzugt Lebewesen mit schneller Reproduktion, die sich schnell an veränderte Bedingungen anpassen können – vor allem niedere Lebensformen: Viren, Bakterien, Insekten etc. (122). Wir entdecken ständig neue Prozesse, welche die bisher bekannten ökologischen Probleme als die oberste ‚Spitze eines Eisberges’ erscheinen lassen.

121.) Marcuse, D. E. M., a.a.O. S. 11
122.) Vgl.: Mögliche biologische Folgen der globalen Erwärmung des Klimas in: Der Spiegel, 1996, H. 8, S. 210–212.


Die letzten Sätze seines Buches zeigen: Marcuse war fast ohne Hoffnung, dass die ’Befreiung der Gesellschaft’ gelingen könnte. Heute geht es (noch deutlicher) um das mit einer Befreiung verbundene Überleben der Zivilisation. Besteht heute hinreichender Grund, ohne Hoffnung zu sein ?

In jedem Falle gibt es keinen anderen Weg, als zu agieren und zu reagieren. 'Verdrängungen', wiederholte Nichtreaktionen auf Bedrohungen, lösen Stresssymptome, Neurosen und Psychosen aus. Das permanente Spüren einer Bedrohung, ohne Gegenmassnahmen zu versuchen, ist ein existentiell und psychisch autodestruktiver Prozess. Die alltägliche Informations- und Nachrichtenflut verstärkt ’pseudo-ekstatische’ und gleichzeitig ’paralytische’ Strukturen: das ‚Schiff sinken lassen’ und nichts tun - 'geistlos’ im ’Jetzt’ rotieren - jeder gegen jeden.

Die Globalisierung unterwirft alle Regionen unter die Mechanismen einer weltweiten Turbo-Kapitalisierung. Alle wichtigen Entscheidungen, auch die politischen und ökologischen Grundentscheidungen, werden durch das finanzielle Geschehen an den Börsen, in den Banken und Konzernzentralen bestimmt und (heute) in einer gigantischen virtuellen 'Kapitalstrukturblase', in der die täglichen globalen Kapitalströme (völlig abgehoben von allen Wirklichkeiten) die realen täglichen Investitions-, Waren- und Produktionsleistungen, die früher durch das Kapital als ,gemeinschaftliche Substanz aller Waren' repräsentiert waren, um mindestens den Faktor 50 übersteigen.

Man brauchte keinerlei ökonomischen Sachverstand, um zu erkennen, dass eine solche gigantische rein virtuelle Kapitalströmungsstruktur (bei einer geringsten Erschütterung) sofort zu einer gewaltigen (auch produktiven) Weltwirtschaftskrise führen musste. Viele, viele Experten, auch sehr viele sehr konservative, hatten seit mindestens 25 Jahren vor diesem notwendig folgenden Zusammenbruch gewarnt. Der Auslöser hätte alles mögliche - eben auch eine nur relativ kleine Erschütterung - sein können.

Die immer immenser werdende amerikanische Totalüberschuldung hat auch eine über 40 jährige Tradition und war absolut ersichtlich, und ebenso braucht es auch keine intensiven Überlegungen, um zu sehen, dass (ohne Inflation) Grundstückspreise nicht immer unendlich weiter wachsen können.

Über 36 Jahre nach dem Erscheinen des Buches: 'Die Grenzen des Wachstums' haben noch immer viele nicht begriffen, dass, zumindest in nahezu allen materiellen Bereichen, ein unendliches Wachstum unmöglich sein muss. (123)

Nicht wenige wussten sogar den Zeitpunkt, der etwa zwischen 2008 und 2013 liegen sollte. Einige hatten sogar den genauen Zeitpunkt prognostiziert: zwischen Obamas Wahl und seiner Amtseinführung. Und genau so ist es dann gekommen.

Und obwohl auch viele sehr, sehr konservative Ökonomen und Politiker immer wieder davor gewarnt hatten, wird dies alles hier als 'linke Spinnerei' abqualifiziert - oft von Leuten, die offenbar so sehr in der totalen 'Eindimensionalität' befangen, nicht einmal ansatzweise bemerken, dass sie sich selbst und allen Gesetzen der Logik völlig widersprechen.

Bevor man anfängt, über die in der hegelischen und damit in der gesamten philosophiegeschichtlichen Tradition stehende Philosophie und Wissenschaft von Karl Heinrich Marx zu sprechen (und erst recht gegen ihn zu polemisieren), sollte man sich wenigstens ansatzweise einmal damit beschäftigt haben. Nach dem Ende des 'Kalten Krieges' sollten vernünftigerweise auch die ideologischen Kriegsparolen gegen Marx' Forschungen und die seiner Nachfolger endlich verschwinden und einer wissenschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit den konstruktiven, inspirativen und kritikwürdigen Momenten in diesen Arbeiten weichen.

123.) Vgl.: Meadows, Dennis, Meadows Donella, Zahn, Erich, Milling, Peter, Die Grenzen des Wachstums, Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Rowohlt Verlag, Reinbeck 1973


"Mit der Identifizierung einer Geschichte, die als Entfaltung der Struktur des Kapitals selbst noch strukturrelevant ist, gelingt es dem späteren Marx aber, Hegels Theorem eines Widerspruchs zwischen zwei sich enthaltenden und zugleich ausschliessenden Totalitäten entsprechend seiner Geschichts- auffassung zu modifizieren. In seiner Sicht ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt erst das Kapital als Totalität 'gesetzt', noch nicht die als Lohnarbeit bestimmte Arbeit, die das Kapital sich als sein eigenes Moment einverleibt hat. Sie tendiert nur dahin, ihrerseits zur Totalität zu werden. Eine solche Tendenz kann sie immerhin verfolgen, weil sie das Ganze, von dem sie zum Moment herabgesetzt wurde, an sich ist. Denn das Kapital ist als "gemeinschaftliche Substanz aller Waren" (124), nichts als vergegenständlichte Arbeit, und die vergegenständlichte hat ihre Quelle wiederum in lebendiger Arbeit. Mithin ist das Kapital das Gegenteil dessen, als was es sich seiner Form nach darstellt." ... Darin kommt "zum Ausdruck, daß die geschichtliche Verwirklichung des Kapitalbegriffs als ein infolge solcher Widersprüchlichkeit autodestruktiver Prozeß identifiziert wird." (125)

Globalisiert wird heute nicht nur das westliche kapitalistische System, sondern auch der mit diesem System verbundene westliche Zeitgeist, die westliche Gesamtauffassung der Welt: die westliche Freiheits- und Wirk- lichkeitsauffassung. Diese 'tendiert' zwar einerseits zur Verwirklichung der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten, aber sie beinhaltet auch eine alle Wissens- und Lebensbereiche umfassende 'Herrschaftsrationalität': eine totale Machtperspektive in einem allumfassenden regionalen und globalen Kampf um die Macht, in dem unzählige Verbände, Gruppen, Konzerne, Unternehmen, Regionen, Nationen, Kulturkreise und Individuen gegeneinander um Selbstbehauptungen konkurrieren.

Nietzsche hatte die im 20. Jahrhundert praktizierte Freiheits- und Wirklichkeitsauffassung als 'Wille zur Macht' präfiguriert. Heute kämpfen die 'Willen zur Macht' in einem antagonistischen Kräftespiel, in dem es keine gemeinsame ’Wahrheit’, keine gemeinsame ’Objektivität’ gibt - sondern nur zahllose interessengeleitete Einzelperspektiven: Kampf um die Macht und Selektion, in der das Schwächere zum Untergang verurteilt ist und die Natur gebrochen wird - bis hin zur Selbstzerstörung der Zivilisation.

124.) Vgl.: Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Dietz Verlag Berlin 1974, insbesondere: Erster Abschnitt, Kapitalistischer Produktionsprozeß, Seite 211/212 ff
125.) Theunissen, Michael, Dialektik der Endlichkeit in: Dialektik und Differenz, Festschrift für Milan Prucha, Hrsg.: Annett Jubara und David Benseler, Harrassowitz Verl., Wiesbaden 2001, Seite 62/63


Die heute im Westen gesellschaftlich praktizierte Freiheits- und Wirklichkeitsauffassung bedroht massiv die Existenz der Menschheit, so dass es in unserer Epoche darum geht, die westliche Freiheits- und Wirklichkeitsauffassung zu kritisieren und zu korrigieren, statt sie - völlig ohne jede Selbstkritik - blindlings zu globalisieren.

Im Sinne einer 'Realistischen Dialektik', einer ’affirmativen assoziativen dialektischen’ Konzeption der ’Freiheit als Überwindung des Partikularismus’ müsste der Mensch auf allen Ebenen, in der Theorie, Praxis und Zielstellung, von der Dominanz von Partikulärem, von Einzelheiten, von Geld, Kapital, einzelnen Mächten, Klassen, Gruppen, Ideologien, von Isolierungen aller Art unabhängiger werden, um in erweiterten Horizonten, durch die Fülle des Überblickten individuelle und intersubjektive Auswahl- und Freiheitsmöglichkeiten zu gewinnen.

Dies zielt angesichts der aktuellen Zivilisationskrise auf den Abbau von destruktiven Machtstrukturen, von bewussten und unbewussten, individuellen und kollektiven Bemächtigungs- und Ausbeutungsstrategien gegenüber anderen Menschen und der umgebenden Welt: auf mehr ’Rezeptivität’ und 'Reziprozität', Empfänglichkeit und Annahmefähigkeit, für die belebte und unbelebte Welt in ihrer konkreten Wirklichkeit - in ihrem Sein.

Unsere Erde scheint, auf den ersten Blick, riesig zu sein, aber sie ist im unvorstellbar unendlichen Meer des Universums ein 'subatomar' winziges 'Schiffchen', auf dem wir alle gemeinsam leben. Eine ’problemorientierte Philosophie’ ist mit dem ‚Bau eines Schiffes auf offenem Meer’ vergleichbar. Heute sind durchaus viele (Hunderte Millionen) Menschen an der "wahrhaften Auflösung des Widerstreites" interessiert und engagiert, kreativ, konstruktiv und wohlwollend an unserem ’Schiff’ tätig, aber: Milliarden entfernen, teils bewusst und teils unbewusst, unten im Rumpf Planken, um sie an Deck zu verhökern..

Eine Marcuses Ansatz weiterführende ’affirmative assoziative Dialektik’ kann auch kein Patentrezept, kein einfaches Heilmittel anbieten, aber möglicherweise Orientierungsmuster für die sozialwissenschaftliche Forschung und für alle, die weiterhin das Projekt einer ’Verwirklichung der Freiheit’ verfolgen.



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Zum Artikel: Der Wille zur Macht als Zeitgeist. bitte hier klicken.

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Berlin Steglitz-Zehlendorf, Berlin, Germany
„Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“ Seit langer Zeit versuche ich, politisch-philosophisch gegen die Selbstzerstörung unserer Zivilisation zu agieren und auch täglich zum Augenblicke sagen zu können: „Verweile doch! du bist so schön!" Nur durch intensive Erfahrung sind Menschen und Realitäten fassbar, zeigte mein Austauschjahr in Kalifornien. Der immense Technikfortschritt und barbarische Politikrückschritt liessen mich (statt Mathematik, Physik, Astrophysik etc.) Philosophie, Politik, Psychologie, Amerikanistik, Kunst studieren. Anders als die Schule liebte ich die damals 'freiere' Universität Berlin. Bis heute bin ich dort leidenschaftlich tätig. Seit 76 befasse ich mich mit Computerprogrammierung, später mit MIDI, Grafikprogrammen, Spracherkennung usw. Kreierte Aufsätze, Vorträge, Musik, Kunst, Videokunst, organisierte Ausstellungen, bin mehr als 30 Jahre gesegelt, liebe Natur und Abenteuer, lebte zeitweise auf dem Lande (ökolog. Landbau) und versuche jetzt, zwei allgemeinverständliche, spannend lesbare politisch-philosophische Bücher zu schreiben: Philosophie ist "ihre Zeit in Gedanken erfaßt".